Geschichte des Antisemitismus
Entstehung und Entwicklung
Der folgende Zeitstrahl zeigt die historischen Entwicklungen des Antisemitismus von der Antike bis in die Gegenwart. Er veranschaulicht, wie sich Judenfeindschaft über Jahrhunderte wandelte – von religiös motiviertem Antijudaismus hin zu modernem Antisemitismus. Dabei werden zentrale Ereignisse, gesellschaftliche Tendenzen und politische Brüche hervorgehoben, die das jüdische Leben in Europa bzw. der Welt bis heute prägen.
Übersicht
Antike
- Religiöse Abgrenzung jüdischer Gemeinschaften
- Antijüdische Vorurteile in griechisch-römischer Literatur
Frühmittelalter
- Beginn kirchlicher Diskriminierung jüdischer Gemeinden
- Duldung, aber unter gesellschaftlicher Marginalisierung
Spätmittelalter
- Zunahme von Pogromen, Ritualmordlegenden und Zwangstaufen
- Ghettoisierung und systematische Ausgrenzung jüdischen Lebens
Frühe Neuzeit
- Früh-rassistische Ideen („Blutsreinheit“)
- Judenvertreibungen, Inquisition und Sündenbockfunktion in Krisenzeiten
19. Jahrhundert
- Übergang zu modernem Antisemitismus: Nationalismus, Rassentheorien, Verschwörungsmythen
- Entstehung antisemitischer Parteien und pseudowissenschaftlicher Ideologien
Nationalsozialismus
- Radikalisierung und staatlich organisierte Vernichtung (Holocaust)
- Zentraler Bestandteil nationalsozialistischer Weltanschauung
1945–2000 (Nachkriegszeit)
- Unterschiede im Umgang in DDR und BRD
- Neue Erscheinungsformen: Post-Shoah-Antisemitismus, Israelbezogener Antisemitismus, Verschwörungsmythen
Seit 2000 (Gegenwart)
- Zunahme antisemitischer Verschwörungserzählungen (z. B. 9/11, Corona, 7. Oktober 2023)
- Antisemitismus in sozialen Medien, auf Demonstrationen und im Alltag – oft verschleiert als „Israelkritik“
Antike
vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 1. Jahrhundert n. Chr.
In der Antike entwickelte sich eine Vorform des Antisemitismus, oft als antiker Antijudaismus oder Proto-Antisemitismus bezeichnet, im Kontext religiöser und kultureller Abgrenzung. Besonders im hellenistischen Raum stießen jüdische Bräuche wie die Beschneidung, der Sabbat oder das Verbot des Götzendienstes auf Unverständnis und Ablehnung. Autoren wie Tacitus oder Apion warfen den Juden Fremdheit, bewusste Abschottung und Menschenfeindlichkeit vor. Diese Vorurteile speisten sich weniger aus rassistischen Motiven, sondern richteten sich vor allem gegen das religiös-kulturelle Anderssein. Der moderne Forschungsstand betont dabei, dass es sich noch nicht um systematischen Antisemitismus im späteren Sinn handelte, sondern um vielfältige, teils widersprüchliche Formen von Feindbildern.
Die Entstehung dieses frühen Antijudaismus zieht sich über mehrere Jahrhunderte hinweg und ist eng mit der Ausbreitung jüdischer Gemeinden im Mittelmeerraum und deren Kontakt mit der griechisch-römischen Mehrheitskultur verbunden.
- Erste greifbare Formen negativer Darstellung von Juden tauchen etwa ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. im hellenistischen Ägypten, insbesondere in Alexandria, auf – z. B. bei Autoren wie Manetho oder später Apion.
- In der römischen Kaiserzeit (ab dem 1. Jahrhundert v. Chr.) finden sich dann bei Schriftstellern wie Tacitus, Juvenal oder Seneca weitere antijüdische Stereotype.
- Die Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 n. Chr. durch die Römer markiert einen Wendepunkt, nach dem sich die jüdisch-römischen Spannungen weiter verschärften und das Bild vom „fremden“ Judentum verfestigte.
Römisches Reich und Ägypten
Antijüdische Ressentiments traten nicht nur im griechischen Kulturraum auf, auch im Römischen Reich wurden Juden zunehmend als religiös und sozial „fremd“ wahrgenommen. In Alexandria (Ägypten unter römischer Herrschaft) kam es bereits im 1. Jahrhundert n. Chr. zu massiven Gewaltausbrüchen gegen jüdische Gemeinden. Römische Autoren trugen zur Verbreitung abwertender Bilder von Jüdinnen und Juden als „abgeschottet“ und „fanatisch“ bei.
Frühmittelalter
vom 4. Jahrhundert n. Chr bis zum 9. Jahrhundert n. Chr.
Im Frühmittelalter entwickelte sich der Antijudaismus zunehmend innerhalb eines christlich geprägten Weltbilds. Mit der Christianisierung Europas wurde das Judentum als religiöse Konkurrenz betrachtet, was zur Ausgrenzung und theologischen Abwertung führte. Die Kirche übernahm antijüdische Deutungen, die Juden als "Gottesmörder" (bzw. „Christusmörder“) diffamierten. Zwar waren Juden rechtlich oft geschützt, gleichzeitig wurden sie jedoch gesellschaftlich isoliert und in bestimmte Berufe oder Wohngebiete gedrängt. Der Antijudaismus war dabei primär religiös motiviert, legte aber bereits Strukturen für spätere, stärker rassistisch geprägte Formen des Antisemitismus.
- 4. Jahrhundert: Beginn der rechtlichen Benachteiligung unter christlich gewordenen römischen Kaisern (z. B. unter Konstantin dem Großen)
- Lateinische Kirchenväter wie Augustinus formulieren die Vorstellung der Juden als "Zeugen des Untergangs Israels" – geduldet, aber verachtet
- Synode von Elvira (um 306): Erste kirchliche Bestimmungen gegen den Kontakt zwischen Christen und Juden
- 6.–7. Jahrhundert: Judengesetze unter den westgotischen Königen in Spanien – Zwangstaufen und Verbote jüdischer Praktiken
- Karolingische Zeit (8.–9. Jh.): Ambivalente Haltung – Schutz durch die Herrscher (z. B. Karl der Große), aber zunehmende soziale Absonderung
Byzantinisches Reich
Während in Westeuropa erste antijüdische Gesetzgebungen einsetzten, kam es auch im Byzantinischen Reich (Ostrom) zu religiös motivierter Diskriminierung, besonders ab dem 6. Jahrhundert unter Justinian I., welcher jüdische Gottesdienste einschränkte und Zwangstaufen förderte. Durch kaiserliche Erlasse kam es zu gesetzlichen Diskriminierungen, die jüdische Feste und religiöse Praktiken verboten – ein frühes Beispiel für staatlich durchgesetzten Antijudaismus im christlichen Kontext.
Spätmittelalter
vom 11. Jahrhundertbis zum 15. Jahrhundert
Im Spätmittelalter verschärfte sich der Antijudaismus deutlich und nahm zunehmend gewalttätige und systematische Formen an. Wirtschaftliche Krisen, religiöser Fanatismus und soziale Spannungen führten zu Pogromen, Vertreibungen und Zwangstaufen. Juden wurden für Katastrophen wie die Pest verantwortlich gemacht und mit Ritualmordlegenden und Brunnenvergiftungs-Mythen dämonisiert. Die kirchliche Lehre blieb ambivalent: Einerseits wurden Juden weiterhin als „Zeugen“ des alten Bundes geduldet, andererseits aber massiv stigmatisiert, etwa durch Kleiderordnungen. Im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts wurden viele jüdische Gemeinden in Westeuropa zerstört oder zur Auswanderung gezwungen.
Die Vorstellung vom „ewigen Juden“ und die institutionelle Ausgrenzung wirkten weit in die Neuzeit hinein.
- 1096: Erster Kreuzzug – erste große Judenpogrome in deutschen Städten am Rhein (z. B. Speyer, Worms, Mainz)
- 1215: Vierter Laterankonzil – Einführung der Kleiderordnung für Juden, um sie äußerlich zu kennzeichnen
- 1348–1351: Schwarzer Tod – Juden werden als Sündenböcke beschuldigt, Brunnen vergiftet zu haben → Pestpogrome in vielen Städten
- 14.–15. Jahrhundert: Massive Vertreibungen: z. B. aus England (1290), Frankreich (1306, 1394), Spanien (1492), Portugal (1497)
- Ende des 15. Jh.: Beginn der zwangsweisen Konversion und des Lebens als „Conversos“ / „Marranen“ in Spanien und Portugal unter der Inquisition
Osmanisches Reich
Während in weiten Teilen Europas Juden systematisch verfolgt wurden, bot das Osmanische Reich ab dem 14. Jahrhundert vielen Jüdinnen und Juden Schutz und vergleichsweise sichere Lebensbedingungen. Insbesondere nach der Vertreibung der Sephardim aus Spanien (1492) wurden jüdische Gemeinden im Osmanischen Reich aufgenommen, z. B. in Istanbul, Thessaloniki oder Izmir. Dennoch kam es auch hier zu antisemitischen Ressentiments, etwa in Form von Ritualmordlegenden und sozialer Ausgrenzung, jedoch ohne systematische Verfolgung wie in Europa.
Frühe Neuzeit
vom 15. Jahrhundert bis zum18. Jahrhundert
In der Frühen Neuzeit wandelte sich der Antijudaismus schrittweise: Neben der religiösen Ablehnung trat verstärkt eine wirtschaftliche Dimension. Juden wurden in vielen Gebieten weiterhin diskriminiert, mussten in Ghettos leben und durften nur bestimmte Berufe ausüben. Gleichzeitig entstanden durch staatliche Interessen auch Phasen des relativen Schutzes, etwa wenn jüdische Finanzexperten gebraucht wurden. Der christlich geprägte Antijudaismus blieb prägend, wurde aber zunehmend von ökonomischen Vorurteilen und einer beginnenden ethnischen Sichtweise überlagert. Diese Entwicklungen legten wichtige Grundlagen für den späteren rassistischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts.
- 1492–1497: Vertreibungen aus Spanien und Portugal – Beginn jüdischer Diaspora in Westeuropa, Nordafrika und dem Osmanischen Reich
- 16. Jahrhundert: Martin Luther propagiert zunächst Toleranz, später jedoch aggressive judenfeindliche Schriften (z. B. Von den Juden und ihren Lügen, 1543)
- 1555: Papst Paul IV. erlässt die Bulle Cum nimis absurdum – Einführung der römischen Ghettos
- 17. Jahrhundert: Juden in Osteuropa (v. a. Polen-Litauen) erleben teils religiöse Autonomie, aber auch massive Gewalt (z. B. Chmelnyzkyj-Pogrome 1648/49)
- Aufklärung (18. Jh.): Erste Forderungen nach Toleranz und Emanzipation, z. B. bei Moses Mendelssohn – aber auch neue Stereotype als „unaufgeklärtes Volk“
Iberisches Halbinsel & Kolonialräume
Besonders in Spanien und Portugal nahm der Antijudaismus eine neue, rassisch aufgeladene Dimension an: Die Vorstellung der „limpieza de sangre“ (Reinheit des Blutes) richtete sich auch gegen zum Christentum konvertierte Juden („Marranen“) und schloss diese aus der Gesellschaft aus. Zudem wurde diese Logik in die Kolonien Lateinamerikas exportiert, wo Jüdinnen und Juden auch der Inquisition zum Opfer fielen.
Freimauerer, Aufklärung und Jüdische Weltverschwörung
Mit dem Aufstieg der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert verbreiteten sich Verschwörungserzählungen, die diese als heimliche Strippenzieher hinter gesellschaftlichen Umwälzungen wie der Französischen Revolution darstellten. Besonders in reaktionären und kirchlichen Kreisen wurde das Bild gezeichnet, Freimaurer und Juden arbeiteten zusammen an der Zerstörung von Monarchie, Kirche und „traditioneller Ordnung“. Diese Narrative verdichteten sich später zu einem zentralen Bestandteil antisemitischer Weltverschwörungstheorien – ein ideologisches Fundament, das bis in die Gegenwart wirkt.
Beginnende Moderne
19. Jahrhundert
Im 19. Jahrhundert wandelte sich der Antijudaismus zunehmend zu einem modernen, rassistisch geprägten Antisemitismus. Während die jüdische Bevölkerung im Zuge der Aufklärung und der Französischen Revolution erste Rechte erhielt, formierten sich neue Feindbilder, die nicht mehr religiös, sondern biologisch-ethnisch begründet wurden. Juden galten nun als „fremde Rasse“, der man Assimilation abspricht, unabhängig von Glauben oder Lebensweise. Nationalismus, Sozialdarwinismus und wirtschaftliche Krisen verstärkten judenfeindliche Ideologien und machten Antisemitismus politisch salonfähig. In dieser Zeit entstanden antisemitische Parteien, Schriften und Verschwörungstheorien, die den Boden für den späteren Völkermord bereiteten.
Dieser neue, moderne Antisemitismus war tief mit Nationalismus und Rassismus verflochten und machte Juden endgültig zu „Fremden“, selbst bei vollständiger Integration. Damit begann eine neue Phase ideologischer Judenfeindschaft mit weitreichenden Folgen.
- 1789–1806: Beginn der jüdischen Emanzipation in Europa (z. B. durch die Französische Revolution)
- 1819: Erste große antisemitische Ausschreitungen („Hep-Hep-Krawalle“) in deutschen Städten
- 1879: Der Begriff „Antisemitismus“ wird vom Publizisten Wilhelm Marr geprägt – Abgrenzung vom religiösen Antijudaismus, Betonung der „Rasse“
- 1880er–1890er Jahre: Gründung antisemitischer Parteien in Deutschland und Österreich (z. B. „Christlich-Soziale Partei“ oder „Deutsche Antisemiten-Liga“)
- 1894–1906: Dreyfus-Affäre in Frankreich – antisemitischer Justizskandal mit europaweiter Aufmerksamkeit
- Zionistische Bewegung: Als Reaktion auf anhaltende Diskriminierung gründet sich 1897 der Zionistische Weltkongress unter Theodor Herzl (was später als Grundlage neuer Weltverschwörungs-Phantasien genommen wurde)
„Protokolle der Weisen von Zion“
Ende des 19. Jahrhunderts entstand in zaristisch-konservativen Kreisen in Russland der konstruierte Text der „Protokolle der Weisen von Zion“ – angeblich ein jüdischer Geheimplan zur Weltherrschaft. Das Pamphlet wurde international verbreitet und galt im 20. Jahrhundert als „Bibel der Antisemiten“, etwa bei den Nationalsozialisten, aber auch in vielen arabischen und postsowjetischen Ländern. Bis heute kursieren die Protokolle als Teil antisemitischer Verschwörungsideologien.
Zivilisationsbruch
20. Jahrhundert
Im 20. Jahrhundert erreichte der Antisemitismus seinen grausamsten Höhepunkt mit dem Holocaust unter dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland. Der rassistische Antisemitismus wurde zur staatlichen Ideologie erhoben und systematisch in Gesetze, Propaganda und Gewalt umgesetzt. Zwischen 1941 und 1945 ermordeten die Nationalsozialisten in der sogenannten „Endlösung“ rund sechs Millionen europäische Jüdinnen und Juden. Bereits vor der Shoah wurden jüdische Menschen entrechtet, enteignet und gesellschaftlich ausgegrenzt. Dies kulminierte schließlich in der industriellen Massenvernichtung. Die Shoah markiert einen Zivilisationsbruch und prägt das europäische Geschichtsbewusstsein bis heute.
Der Holocaust war das Ergebnis jahrhundertelanger Judenfeindschaft, radikalisiert durch rassistische Ideologie und moderne Bürokratie.
- 1918–1933: In der Weimarer Republik gibt es einerseits jüdische Integration, andererseits zunehmenden Antisemitismus – besonders durch völkische Gruppen
- 1933: Machtübernahme der Nationalsozialisten → Beginn der systematischen Entrechtung der Juden (z. B. Boykotte, Berufsverbote)
- 1935: Nürnberger Gesetze definieren Juden rassisch und entziehen ihnen die Staatsbürgerrechte
- 9./10. November 1938: Novemberpogrome („Reichskristallnacht“) – massive Gewalt gegen jüdische Geschäfte, Synagogen und Menschen
- 1941–1945: Holocaust / Shoah – industrielle Massenvernichtung als Höhepunkt des eliminatorischen Antisemitismus
- 1945: Ende des Zweiten Weltkriegs → Beginn der Auseinandersetzung mit Schuld, Erinnerung und Verantwortung
Export in Arabische Länder
Die NS-Ideologie wurde ab den 1930er Jahren gezielt in den Nahen Osten exportiert, u. a. durch Radio-Sendungen in arabischer Sprache und den Einfluss des Großmuftis von Jerusalem, Amin al-Husseini. Al-Husseini arbeitete eng mit Hitler zusammen, unterstützte die SS und verbreitete antisemitische Propaganda in der arabischen Welt. Dieser Einfluss prägt Teile des Nahostkonflikts bis heute.
Antisemitismus unter Stalin
Auch in der Sowjetunion nahm der staatliche Antisemitismus unter Josef Stalin in den späten 1940er Jahren massiv zu. Besonders bekannt ist die sogenannte Ärzteverschwörung (1952–53), in der jüdische Mediziner beschuldigt wurden, Parteifunktionäre vergiftet zu haben. Diese Kampagne trug Züge eines geplanten antisemitischen Säuberungsprogramms und führte zu massiver Verfolgung und Diskriminierung.
Nach 1945
von 1945 bis 2000
Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde Antisemitismus in Deutschland offiziell geächtet, verschwand jedoch nicht aus der Gesellschaft. In der BRD entwickelten sich erinnerungskulturelle Debatten nur zögerlich, während in der DDR die Verantwortung für die Shoah weitgehend dem „Faschismus“ des Westens zugeschrieben wurde. Eine wirkliche Erinnerungskultur und -politik etablierte sich in der BRD erst ab den 80er Jahren.
Antisemitismus äußerte sich sowohl im rechten als auch im linken politischen Spektrum, besonders im Zuge der Studentenbewegung und in der Reaktion auf die Staatsgründung Israels. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen jüdische „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland, die oft erneut mit antisemitischen Anfeindungen konfrontiert waren. Nach der Wiedervereinigung nahm antisemitische Gewalt, vor allem in Ostdeutschland, deutlich zu, besonders in den „Baseballschlägerjahren“ der 1990er.
1945–1950er Jahre:
- In der BRD zunächst wenig öffentliche Auseinandersetzung mit der Shoah; viele Täter bleiben unbehelligt.
- Erste Versuche zur Wiedergutmachung (z. B. Luxemburger Abkommen 1952), aber breite gesellschaftliche Ablehnung.
1948:
- Staatsgründung Israels → löst weltweit (auch in Deutschland) antisemitische Reaktionen aus, oft als „Israelkritik“ getarnt.
- In arabischen Ländern kommt es zur Vertreibung jüdischer Gemeinden, was auch in Europa antisemitisch kommentiert wird.
1950er–1980er Jahre (DDR):
- Offizielle Linie: Antifaschismus, keine Verantwortung für den Holocaust.
- Antizionismus wird zur Staatsdoktrin – Israel wird als „imperialistischer Staat“ bekämpft, jüdische Identität verdächtigt.
- Jüdisches Leben stark eingeschränkt, Überwachung und Misstrauen gegenüber jüdischen Gemeinden.
1967/1970er Jahre:
- Nach dem Sechstagekrieg 1967 kommt es in der Neuen Linken / 68er-Bewegung zu wachsendem Antizionismus.
- Israel wird vermehrt als „kolonialistischer Unterdrückerstaat“ diffamiert – „linker“ Antisemitismus erstarkt.
- Gruppen wie die RAF pflegen Kontakte zu antisemitisch motivierten Akteuren im Nahen Osten.
1990er Jahre (nach der Wende):
- In Ostdeutschland eskaliert rechtsextreme Gewalt – sog. „Baseballschlägerjahre“ mit Angriffen auf migrantische und jüdische Menschen sowie alternative Jugendliche.
- Jüdische Gemeinden erleben Bedrohung und Anschläge, z. B. Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge (1994).
- Antisemitismus äußert sich häufiger offen, besonders in Ostdeutschland, aber auch im Westen.
1990er Jahre – jüdische „Kontingentflüchtlinge“:
- Nach dem Zerfall der Sowjetunion zieht eine große Zahl jüdischer „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland.
- Viele von ihnen erfahren Ablehnung und soziale Ausgrenzung, nicht selten auch antisemitische Ressentiments, gerade im Osten.
- Aufbau neuer Gemeinden, aber auch Herausforderungen bei Integration und Anerkennung jüdischer Identität.
Antisemitismus der 68er & Linksterrorismus
Teile der 68er-Bewegung wandelten sich von antiautoritärer Rebellion zu einem aggressiven Antizionismus, welcher auch in offenen Antisemitismus umschlug. Gruppen wie die Tupamaros West-Berlin planten 1969 einen Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus, nur durch Zufall ohne Todesopfer. Beim Olympia-Attentat 1972 tötete die palästinensische Gruppe „Schwarzer September“ elf israelische Sportler, unterstützt von deutschen Sympathisanten. Auch die RAF zeigte antisemitische Narrative in ihrer Ideologie und kooperierte mit palästinensischen Terrorgruppen.
Antisemitismus im Nahen Osten ab 1948
Nach der Gründung Israels 1948 kam es im Nahen Osten zu mehreren arabisch-israelischen Kriegen, die zu einer Zuspitzung antiisraelischer und zunehmend auch antisemitischer Haltungen führten. In vielen arabischen Staaten wurden Jüdinnen und Juden kollektiv mit dem „zionistischen Feind“ gleichgesetzt, was zu Vertreibungen, Diskriminierung und Pogromen gegen jüdische Minderheiten führte.
Antizionistische Propaganda bediente sich dabei oft klassischer antisemitischer Verschwörungsnarrative (z. B. „Protokolle der Weisen von Zion“) und wurde in staatlich gelenkten Medien weiterverbreitet. Diese Form des Antisemitismus ist bis heute ein prägender Bestandteil einiger politischer und religiöser Diskurse im Nahen Osten.
Gegenwart
von 2000 bis heute
Nach 2000 erlebte der Antisemitismus in Deutschland eine neue Dimension, teils durch die Auswirkungen von Terroranschlägen und Verschwörungstheorien, teils durch die wachsende Polarisierung im digitalen Raum. Der 11. September 2001 verstärkte antisemitische Narrative, die Jüdinnen und Juden in Verbindung mit globalen Verschwörungen und dem „Westen“ brachten. Antisemitismus nahm sowohl in der rechten als auch in der linken Szene neue Formen an, besonders im Hinblick auf Israel. Die Corona-Pandemie förderte eine Flut von antisemitischen Verschwörungstheorien, die Juden erneut als „Hintermänner“ von Krisen darstellten. Diese Tendenzen fanden ihren Ausdruck sowohl im alltäglichen Leben als auch zunehmend in den sozialen Medien und führten zu einer verstärkten Bedrohung jüdischer Gemeinschaften.
2001 – 11. September:
- Der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York löst weltweit eine Flut von Verschwörungstheorien aus, in denen oft Jüdinnen und Juden oder „zionistische Kräfte“ beschuldigt werden, hinter den Anschlägen zu stecken.
- Diese Antisemitismus-Strategien entwickeln sich durch die globalisierte Vernetzung weiter, auch in Deutschland, wo ähnliche Narrative in der rechten und linken Szene Verbreitung finden.
2000er – 2010er Jahre:
- „Israelkritik“ wird zunehmend mit Antisemitismus vermischt, vor allem nach militärischen Konflikten in Gaza. Israel wird als „imperialistischer Staat“ und als Hauptakteur hinter globalen Krisen dargestellt.
- In deutschen Feuilletons, der akademischen Welt und bei Teilen der Pro-Palästina-Bewegung nehmen antisemitische Aussagen zu, häufig in der Form von Israelhass, der sich von legitimer Kritik an der israelischen Politik zu offenen antisemitischen Stereotypen wandelt.
- Antisemitische Vorfälle steigen in Europa an, z. B. Angriff auf die Humboldt-Universität in Berlin oder antisemitische Ausschreitungen bei Anti-Israel-Demonstrationen.
2019 – Halle-Anschlag:
- Ein rechtsextremer Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) am Jom Kippur erschüttert Deutschland. Der Täter versuchte, in die Synagoge einzudringen und tötete zwei Menschen. Der Halle-Anschlag verdeutlicht die wachsende Bedrohung durch rechten, gewalttätigen Antisemitismus in Deutschland.
- Das Ereignis führt zu einem verstärkten Fokus auf Sicherheit und Prävention für jüdische Gemeinden.
2020 – Corona-Pandemie:
- Antisemitische Verschwörungsmythen erleben während der Corona-Krise einen Boom. Inbesondere rechte Gruppen verbreiteten Erzählungen in denen „die Juden“ bzw. eine jüdische Weltverschwörung als verantwortlich für die Pandemie dargestellt werden.
- Diese Verschwörungsnarrative finden besonders in den sozialen Medien und auf rechtsextremen Plattformen Verbreitung, wo Antisemitismus oft in den Kontext von „globaler Kontrolle“ und „Weltherrschaft“ gestellt wird.
2023 – Der 7. Oktober:
- Der terroristische Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 gilt als das größte antisemitische Massaker seit der Shoah.
- Die Reaktionen weltweit – besonders in sozialen Medien – führten zu einer Welle antisemitischer Gewalt, Aufmärschen, Boykottaufrufen und Drohungen gegen Jüdinnen und Juden.
„TikTok-Intifada“
Der Begriff „TikTok-Intifada“ beschreibt die rasante Verbreitung judenfeindlicher Inhalte auf Social Media und entweder der Verherrlichung oder der Leugnung der Geschehnisse vom 07.10. sowie das Verbreiten der Hamas-Videos von ihren Untaten.
Jüdische Studierende
Viele jüdische Studierende berichten seitdem von offenem Hass, Ausgrenzung und Angst an Universitäten – auch in Deutschland. Die Boykott-Bewegung gegen Israel (BDS) radikalisierte sich ebenfalls in Sprache und Wirkung.
Fazit
Der Zeitstrahl zeigt, dass Antisemitismus keine starre Ideologie ist, sondern sich im Lauf der Geschichte immer wieder an neue gesellschaftliche, politische und kulturelle Kontexte angepasst hat. Aus religiös motiviertem Antijudaismus wurde im 19. Jahrhundert ein rassisch und nationalistisch begründeter Hass, der im Nationalsozialismus seinen tragischen Höhepunkt fand. Doch auch nach 1945 verschwand Antisemitismus nicht – er wandelte sich weiter, tritt heute in Form von Verschwörungserzählungen oder Israelhass auf und wird durch soziale Medien noch verstärkt. Die Geschichte des Antisemitismus ist deshalb nicht nur ein Rückblick, sondern auch eine Warnung für die Gegenwart und Zukunft.