Kurz erklärt: Antisemitismus
Was ist das eigentlich?
Antisemitismus erkennen
Auf dieser Seite erklären wir, was Antisemitismus ist, welche Funktionen er erfüllt und welche Merkmale ihn kennzeichnen. Wir zeigen, in welchen Formen Antisemitismus auftreten kann – in Sprache, Bildern, Taten und Strukturen. Ziel ist es, Antisemitismus sichtbar zu machen, zu verstehen und ihm entgegenzutreten.
Arbeitsdefinition
Die Antisemitismus-Arbeitsdefinition der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA), mittlerweile von über 30 Staaten inkl. der Bundesrepublik Deutschland anerkannt, ermöglicht eine einheitliche und systematische Erfassung und Vergleichbarkeit des Phänomens Antisemitismus:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.”
- „Wahrnehmung“ meint dabei, dass es nicht darum geht, was Jüdinnen und Juden tatsächlich tun oder nicht tun, sondern wie Ihnen von außen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden.
- Dies „kann sich als Hass ausdrücken“, jedoch sind antisemitische Stereotype nicht immer eindeutig als abwertend erkennbar, sondern werden es erst im Gesamtbild.
- Auch Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze sind als antisemitisch zu bewerten.
- „Nichtjüdische“ Personen sind mit angeführt, da es auch Fälle gibt, bei denen Menschen ohne jüdischen Hintergrund entweder als Unterstützer jüdischer Interessen oder gar selbst fälschlich als „Juden“ identifiziert und angegriffen werden.
- Ergänzend zu dieser Arbeitsdefinition nennt die IHRA noch eine Reihe an Beispielen und Ergänzungen, die unter anderem die Relativierung oder Leugnung des Holocaust und einige Formen des Antisemitismus mit Bezug zu Israel diskutieren.
Funktion
„»Antisemitismus fängt da an, wo aus der Gruppenzugehörigkeit Eigenschaften Einzelner abgeleitet werden und umgekehrt. Wenn Jüdinnen und Juden als Gruppe Eigenschaften zugeschrieben werden, die über ihr faktisches Jüdischsein hinausgehen, ist das antisemitisch.«”
- Antisemitismus ist eine Ungleichwertigkeitsideologie, die Menschen aufgrund der ihnen von außen zugewiesenen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe abwertet und ausgrenzt (vgl. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
- Typisch für antisemitische Feindbilder ist die Betrachtung jüdischer Menschen als einerseits unterlegen und minderwertig, andererseits jedoch auch als übermächtig und als existenzielle Bedrohung.
- In antisemitischen Denkmustern wird jüdischen Menschen häufig die Verantwortung für die Probleme der modernen, globalisierten Welt zugeschrieben.
Viele Menschen haben in der modernen Gesellschaft das Gefühl, dass sie keine Kontrolle über ihr Leben haben. Alles ist kompliziert, die Welt verändert sich schnell, viele fühlen sich überfordert und ohnmächtig. Der Antisemitismus nimmt vor diesem Hintergrund die Funktion eines Welterklärungsmodells ein, das Komplexität reduziert, indem jüdische Menschen zu Sündenböcken für alles Übel der modernen, globalisierten Welt gemacht werden. Jüdinnen und Juden werden dabei oft nicht nur gehasst, sondern auch beneidet – z. B. weil sie als besonders klug, reich oder einflussreich dargestellt werden. Dieser Neid ist oft heimlich, nicht bewusst, aber er macht den Hass noch stärker.
Charakteristika
Komplexitätsreduktion: Antisemitismus funktioniert als eine einfache Erklärung für eine komplizierte Welt. Viele Menschen fühlen sich überfordert von schnellen Veränderungen, Krisen und Ungerechtigkeit. Statt sich mit den echten, oft schwer verständlichen Ursachen zu beschäftigen, greifen sie zu einem einfachen Feindbild: „Die Juden sind schuld.“
Wandelbarkeit: Antisemitismus lässt sich nicht immer leicht erkennen. Er verändert sich ständig und passt sich seiner Umgebung an. Mal tritt er offen und aggressiv auf, mal versteckt er sich hinter harmlos wirkenden Aussagen. Dadurch bleibt der Hass bestehen, auch wenn er sich äußerlich wandelt.
Umwegskommunikation: Oft wird Antisemitismus auch über bestimmte Wörter, Bilder oder Vorstellungen weitergegeben – wie ein geheimer Code. Wer diesen Code kennt, versteht sofort, was gemeint ist, auch wenn das Wort „Jude“ gar nicht fällt. So kann sich antisemitisches Denken in der Gesellschaft halten, ohne direkt ausgesprochen zu werden.
Tradierte Bilder: In Zeiten von Krisen – wenn Menschen sich ohnmächtig, wütend oder verunsichert fühlen – wird Antisemitismus häufig als eine Art „Notausgang“ benutzt. Statt die wirklichen Gründe für Probleme zu sehen, werden Jüdinnen und Juden beschuldigt. Sie dienen als Sündenböcke, um den eigenen Frust loszuwerden. Dabei wird auf Bilder und Stereotype zurückgegriffen, die zum Teil seit dem Mittelalter bestehen, ein Teil des kulturellen Gedächtnisses geworden und dadurch in Krisenzeiten leicht abrufbar sind.
Antisemitismus ist nicht nur ein rationales Vorurteil – er lebt vor allem von starken Gefühlen. Hass, Neid, Angst und Wut spielen eine große Rolle. Viele antisemitische Bilder und Erzählungen sprechen genau diese Emotionen an. Sie lösen Abwehr, Misstrauen oder sogar Angst vor Jüdinnen und Juden aus – selbst wenn es dafür keinen realen Grund gibt. Diese Gefühle sitzen oft tief und wirken unbewusst weiter, auch wenn jemand glaubt, gar nicht antisemitisch zu sein. Diese Emotionalität und Affektivität macht es so schwer, Antisemitismus mit rationalen Argumenten und Fakten zu begegnen.
Erscheinungsformen von Antisemitismus
Antisemitische Verschwörungsmythen
Verschwörungsmythen, die jüdische Menschen als »Strippenzieher« hinter negativen Ereignissen und Entwicklungen zeichnen, sind seit Jahrhunderten Teil des Antisemitismus. Während der Corona-Krise beispielsweise wurden jüdische Menschen oder der Staat Israel von Verschwörungsanhängern für die Pandemie verantwortlich gemacht.
Verschwörungserzählungen zeichnen sich vor Allem dadurch aus, dass es eine scheinbar heile, widerspruchsfreie „Wir-Gruppe“ gibt, die sich als „Wissende“ und als „Retter“ generieren. Demgegenüber steht die Gruppe, die als angebliche Verschwörer, als „Feinde“ und als Wurzel des Übels ausgemacht werden. Als dritte Gruppe gibt es die „Unwissenden“, die entweder überzeugt und damit „gerettet“ werden müssen, oder als „Verfügungsmasse der Verschwörer“ angesehen werden.
Israelbezogener Antisemitimus
Diese Form des Antisemitismus zeichnet sich durch die Übertragung von Stereotypen jüdischer Menschen als »abgrundtief böse«, »gierig«, »gerissen« etc. auf den Staat Israel aus.
Als Hilfe zur Unterscheidung zwischen Israelkritik und Antisemitismus kann der sogenannte »3D Test« dienen:
- Dämonisierung z. B. der Staat Israel als »Kindermörder«
- Delegitimierung z. B. die Anzweiflung des Existenzrechts des Staates Israels
- Doppelstandards z. B. die Anwendung höherer Maßstäbe an die Sicherheitspolitik des Staates Israels, als im Vergleich zu anderen Ländern
Der Begriff der „Israelkritik“ steht sinnbildlich für die Dimension der Doppelstandards, so man Begriffe wie „Irankritik“, „Russlandkritik“ etc. vergeblich im Duden sucht.
Hier geht's zum Leitfaden für Israelkritik der Amadeu Antonio Stiftung.
Hier finden Sie weiterführendes Material.
Action Kit gegen israelbezogenen Antisemitismus.
Post-Shoah-Antisemitismus
Der Begriff »Post-Shoah« bezeichnet Formen des Antisemitismus, die in Zusammenhang mit der Massenvernichtung jüdischer Menschen durch das NS-Regime stehen. Üblicherweise wird in solchen Fällen die Ermordung jüdischer Menschen gerechtfertigt oder geleugnet, oder Jüdinnen und Juden wird gar eine Selbstschuld an der Shoah zugeschrieben.
Weitere Beispiele umfassen Forderungen nach einem »Schlussstrich« hinter der kritischen Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus oder die Gleichsetzung anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit der Shoah.
Laut einer repräsentativen Umfrage des Forschungsinstituts Policy Matters im Auftrag der Wochenzeitung „Die Zeit“ aus dem Jahr 2020 sprachen sich 53 Prozent der Deutschen dafür aus, einen „Schlussstrich“ unter die NS-Vergangenheit zu ziehen.
Weiterführendes Material zum Thema finden Sie hier.
Antisemitische Stereotype
Vorurteile über und stereotype Darstellungen von jüdischen Menschen liegen letztlich jeglichen Formen des Antisemitismus zu Grunde, besitzen gleichzeitig jedoch auch ihre eigenen geschichtlichen Hintergründe und Logiken.
Jüdische Menschen werden dabei in verschiedener Weise als grundlegend anders dargestellt, was sich auch in der Zuschreibung verzerrter äußerer Merkmale äußern kann.
Die Wirkmacht solcher Bilder drückt sich unter anderem darin aus, dass das Wort »Jude« negativ konnotiert und als Schimpfwort missbraucht wird.
Nur wenige Menschen wissen, dass Beispielsweise der Begriff „Drückeberger“ auf ein antisemitisches Stereotyp aus dem 1. Weltkrieg zurückgeht: Da einige jüdische Namen auf -berg enden (Rosenberg, Blumberg, Spielberg), nahm man diese Endung als Generalisierung und behauptete, dass sich die deutschen Juden vor dem Kriegsdienst gedrückt hätten – was erwiesenermaßen nicht stimmt. Dieses Narrativ reiht sich in die „Dolchstoßlegende“, eine Verschwörungserzählung, die die Niederlage im 1. Weltkrieg einer „jüdisch-sozialistischen Verschwörung“ zuschreibt.
Rechter Antisemitismus
Rechter oder rechtsradikaler Antisemitismus knüpft häufig direkt an den Nationalsozialismus und seine antisemitischen Kernideologien an. Die Leugnung oder Relativierung der Shoah ist dabei ein zentrales Merkmal. Das zeigt sich z. B. in Begriffen wie dem angeblichen „Bombenholocaust“ bei Gedenkveranstaltungen in Dresden oder Aussagen wie dem „Vogelschiss der Geschichte“, mit denen Politiker die Shoah verharmlosen.
Zugleich finden sich auch moderne Formen: Rechtsextreme Verschwörungsmythen wie der sogenannte „Große Austausch“ behaupten, dass eine jüdische Elite die gezielte „Umvolkung“ Europas plane. Diese Erzählung spielte eine Rolle bei antisemitisch motivierten Anschlägen, etwa in Halle 2019.
Auch israelbezogener Antisemitismus ist Teil rechter Ideologie – etwa in Parolen wie „Israel ist unser Unglück“, die sich sprachlich am NS-Leitspruch „Die Juden sind unser Unglück“ orientieren. Auf Corona-Demos wurde zudem sichtbar, wie rechte Gruppen Holocaustrelativierungen einsetzen – etwa durch gelbe „Ungeimpft“-Sterne – und so antisemitische Narrative neu verpacken.
Der moderne rechte Antisemitismus tarnt sich häufig als „Kritik am Globalismus“ oder an „den Eliten“ – doch steckt dahinter oft die gleiche alte Vorstellung: dass „die Juden“ heimlich alles kontrollieren. Dieses Denken basiert auf dem Mythos der jüdischen Weltverschwörung, wie ihn die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ verbreiteten – ein Text, der bis heute in extrem rechten Kreisen kursiert.
Linker Antisemitismus
Linker Antisemitismus tritt häufig nicht in Form offener Feindseligkeit gegenüber Jüdinnen und Juden auf, sondern ist subtiler – oft „strukturell“ und eingebettet in gesellschaftskritische Weltbilder. Dabei werden antisemitische Denkmuster weitergetragen, auch wenn der Begriff „Jude“ nicht genannt wird. Stattdessen werden Begriffe wie „Finanzeliten“, „Wall Street“, „Globalisten“ oder „Bankenkartelle“ verwendet. Die zugeschriebenen Merkmale – Heimtücke, Verschwörung, Ausbeutung – bleiben aber dieselben wie im klassischen Antisemitismus.
Ein zentrales Element ist dabei die verkürzte Kapitalismuskritik. Diese beschreibt gesellschaftliche Probleme nicht als systemische Zusammenhänge, sondern personifiziert sie: Die Ungerechtigkeit des Kapitalismus erscheint nicht mehr als ein strukturelles Problem, sondern wird einzelnen (oft vermeintlich jüdischen) Akteuren angelastet. Dadurch wird Verantwortung von der Gesellschaft wegprojiziert – auf „das Finanzkapital“, „die Gierigen“ oder „die Strippenzieher“. Diese Personalisierung von Herrschaft führt dazu, dass antisemitische Bilder unter einem scheinbar emanzipatorischen Deckmantel reproduziert werden.
Zudem wird in Teilen der politischen Linken der Staat Israel zum Projektionsziel. Wenn Israel zur Wurzel allen Übels im Nahen Osten erklärt, seine Existenz infrage gestellt oder Terrororganisationen wie die Hamas romantisiert werden, spricht man von israelbezogenem Antisemitismus – auch wenn er sich als „Antizionismus“ tarnt. Dahinter steht häufig ein stark vereinfachtes Weltbild, das in „Unterdrücker“ und „Unterdrückte“ einteilt. Weil Israel in dieser Sichtweise als „westlich“ oder „imperialistisch“ gelesen wird, erscheint es per se als „böse“. Diese Haltung blendet die komplexe Realität des Nahostkonflikts aus und wird gefährlich, wenn sie das Existenzrecht Israels angreift.
Auch hier gilt: Antisemitismus tritt nicht immer in offener Form auf. Aber er steckt oft in der Struktur der Argumentation, in den Bildern, den Zuschreibungen – und ist damit nicht weniger wirkmächtig.
Linker Antisemitismus ist oft schwer zu erkennen, weil er sich als moralisch „guter“ Widerstand gegen Ungerechtigkeit tarnt. Doch auch moralische Überzeugung schützt nicht vor Vorurteilen. Wenn in einer Denkweise nur noch die „Guten“ und die „Bösen“ existieren – und Jüdinnen und Juden (oder Israel) automatisch zu den „Bösen“ zählen –, entsteht ein dualistisches Weltbild, das den Nährboden für Antisemitismus bildet.
Christlicher / Religiös-Fundamentalistischer Antisemitismus
Diese Form des Antisemitismus speist sich aus jahrhundertealten religiösen Vorurteilen – etwa der Vorstellung, dass „die Juden“ Jesus getötet hätten („Christusmord-Legende“) oder dass Jüdinnen und Juden unbedingt zum Christentum bekehrt werden müssten. Diese Denkmuster leben in fundamentalistischen Kreisen bis heute fort.
Hinzu kommen moderne verschwörungsideologische Varianten, in denen jüdische Menschen als Teil angeblicher „satanischer Netzwerke“ dargestellt werden, die Kinder entführen oder mit dem „Antichristen“ im Bunde seien. Solche Narrative erleben vor allem in extrem christlich-fundamentalistischen Bewegungen in den USA, aber auch vereinzelt in Europa, eine neue Verbreitung – etwa in Wahlkämpfen oder durch Online-Propaganda.
Antisemitismus wird hier oft als Teil einer spirituellen Auseinandersetzung dargestellt – der Kampf gegen das „Böse“ wird zu einem Kampf gegen Jüdinnen und Juden stilisiert, obwohl dies nicht immer explizit gesagt wird. Damit greift diese Form auf alte antijudaistische Bilder zurück und verbindet sie mit modernen Verschwörungstheorien.
Religiös begründeter Antisemitismus wird heute oft unterschätzt – vor allem, weil er sich hinter frommen Worten oder spiritueller Sprache versteckt. Doch Begriffe wie „Weltverschwörung“, „Satanismus“ oder „Endzeitkampf“ sind häufig antisemitisch aufgeladen. Besonders gefährlich wird es, wenn dieser Glaube mit politischen Zielen vermischt wird – etwa in der „QAnon“-Bewegung oder Teilen evangelikaler Netzwerke, die antisemitische Erzählungen mit apokalyptischen Visionen verbinden.
Islamischer / Islamistischer Antisemitismus
Islamischer bzw. islamistischer Antisemitismus ist eine Form von Judenfeindschaft, die aus religiösen, kulturellen und politischen Quellen gespeist wird. Dabei ist es wichtig, zwischen dem Islam als Religion und Islamismus als extremistische Ideologie zu unterscheiden. Der Islam als Weltreligion kennt – ähnlich wie das Christentum – Texte, die kritisch oder feindlich gegenüber Jüdinnen und Juden ausgelegt werden können. Doch erst durch bestimmte fundamentalistische Strömungen (z. B. Muslimbrüder, Salafisten) oder politische Akteure (z. B. der Iran oder Gruppen wie die Hamas) werden diese Deutungen zu einer systematischen, antisemitischen Ideologie geformt. Gerade hier ist eine Differenzierung notwendig, die nicht alle muslimisch gelesenen Personen unter Generalverdacht stellt.
In der Moderne wurde dieser Antisemitismus durch europäische Einflüsse, insbesondere aus der Zeit des Nationalsozialismus, zusätzlich aufgeladen – unter anderem durch den Einfluss von NS-Propaganda, die ins Arabische übersetzt wurde. Der frühere Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, pflegte etwa enge Kontakte zu Hitler-Deutschland und trug aktiv zur Verbreitung antisemitischer Ideen bei.
Heute äußert sich islamistisch geprägter Antisemitismus oft in extrem israelbezogener Hetze, aber auch in der Verbreitung von Verschwörungserzählungen, die Jüdinnen und Juden unterstellen, sie wollten den Islam zerstören oder die muslimische Welt unterwerfen. In einigen islamisch geprägten Ländern finden sich antisemitische Inhalte sogar in Schulbüchern oder offiziellen Medien.
Junge Menschen in arabisch-islamischen Gesellschaften wachsen zum Teil mit einem Bild auf, das Jüdinnen und Juden als grundsätzlich böse, gefährlich oder betrügerisch darstellt – ohne dass sie je persönliche Begegnungen mit jüdischen Menschen haben. Dieses Bild wird oft durch Kombinationen religiöser Mythen, politischer Feindbilder und kolonialer Erfahrungen gestützt. Wenn dann noch aktuelle Konflikte wie der Nahostkonflikt hinzukommen, wird Antisemitismus oft mit einem Gefühl von „gerechtem Widerstand“ vermischt – was ihn besonders schwer erkennbar und gefährlich macht.
Philosemitismus
Philosemitismus klingt erstmal positiv – „Freundschaft gegenüber Jüdinnen und Juden“. Doch auch hier kann eine problematische Sichtweise vorliegen: Denn Philosemitismus ist keine echte Anerkennung, sondern eine idealisierende und oft stereotype Überhöhung. Er funktioniert nach denselben Mustern wie Antisemitismus – nur mit positivem Vorzeichen. Statt Jüdinnen und Juden als „gefährlich“ oder „gierig“ darzustellen, werden sie als „besonders kultiviert“, „intelligent“, „feinsinnig“ oder „auserwählt“ betrachtet. Doch auch das ist eine Verengung auf ein Klischee.
Philosemitismus reduziert jüdische Menschen häufig auf ihre (vermeintliche) Andersartigkeit. Oft geschieht das mit Blick auf die Shoah: Jüdinnen und Juden werden als „Überlebende“ einer kollektiven Tragödie betrachtet – und nicht als Individuen mit unterschiedlichen Perspektiven, Meinungen und Biografien. Das führt dazu, dass sie nicht als gleichberechtigte Teilnehmende am gesellschaftlichen Diskurs wahrgenommen werden, sondern als Projektionsfläche für Mitleid, Bewunderung oder „moralische Verantwortung“.
Ein weiteres Problem: Instrumentalisierung. Besonders im politischen Diskurs wird gelegentlich eine einzelne jüdische Person oder Stimme hervorgehoben, wenn sie die eigene Meinung stützt – als „gute Jüdin“ oder „guter Jude“. Diese Person wird dann als Feigenblatt benutzt, um sich selbst gegen Antisemitismus-Vorwürfe zu immunisieren („Ich kann nicht antisemitisch sein, die jüdische Person sieht das genauso wie ich!“). Gleichzeitig werden alle anderen jüdischen Stimmen, die widersprechen, ignoriert oder sogar diffamiert.
Philosemitismus sieht jüdische Menschen also nicht als gleichwertige Subjekte, sondern als Symbolträger – für Schuld, für Trauma, für „das Gute“ oder „das Andere“. Und genau darin liegt das Problem: Es geht nicht um echte Begegnung oder Teilhabe, sondern um Projektion. Auch wenn er wohlwollend gemeint ist, kann Philosemitismus so Teil antisemitischer Strukturen sein.
Gerade in linken oder liberalen Milieus tritt Philosemitismus oft in Form von übermäßiger Solidarität oder besonderer „Zartheit“ auf: Jüdinnen und Juden wird z. B. besonders aufmerksam zugehört, sie werden zu bestimmten Themen gezielt eingeladen („Sag du mal was zur Nahostlage, du bist ja jüdisch…“), oder ihre Geschichte wird permanent mit der Shoah verknüpft – auch wenn sie selbst ganz andere Themen und Anliegen haben. All das ist nicht immer böse gemeint – im Gegenteil. Doch auch positiv codierte Klischees bleiben Klischees. Und sie erzeugen Druck: Die Erwartung, dass jüdische Menschen „weise“, „leidend“, „opferbewusst“, „besonders kultiviert“ oder „moralisch überlegen“ sein müssten, lässt kaum Raum für echte Vielfalt und Selbstbestimmung.
Verbreiteten Denkmustern auf den Grund gehen: Online-Tool der Amadeu Antonio Stiftung Nichts gegen Juden
Antisemitische Codes und Metaphern erkennen.
Antisemitismus in Sachsen - Ein aktueller Überblick
In Sachsen ist ein besorgniserregender Anstieg antisemitischer Vorfälle zu verzeichnen. Laut den Jahresberichten der Meldestelle RIAS Sachsen wurden im Jahr 2023 insgesamt 192 antisemitische Vorfälle dokumentiert – bereits das war ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Im Jahr 2024 stieg die Zahl dann nochmals drastisch auf 349 Vorfälle, was einer Zunahme um über 80 % entspricht.
Besonders auffällig ist der zeitliche Zusammenhang mit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Über die Hälfte der Vorfälle im Jahr 2023 ereigneten sich nach diesem Datum. 2024 war rund zwei Drittel der dokumentierten Vorfälle israelbezogen – darunter verbale Angriffe, Bedrohungen und Sachbeschädigungen, häufig begleitet von einer Leugnung des Existenzrechts Israels oder der Verherrlichung terroristischer Gewalt. Diese Form des Antisemitismus zeigt sich insbesondere in städtischen Räumen wie Leipzig, Dresden und Chemnitz. Dort treten Vorfälle häufig im Kontext von Demonstrationen, Hochschulveranstaltungen oder im öffentlichen Raum auf – etwa durch Plakataktionen, Parolen oder Angriffe auf sichtbar jüdische oder israelsolidarische Personen.
Demgegenüber ist im ländlichen Raum – etwa in den Landkreisen Görlitz, Bautzen oder Zwickau – vor allem klassischer, rechtsextremer Antisemitismus verbreitet. Hier reicht das Spektrum von Schmierereien über Einschüchterungen bis hin zu tätlichen Angriffen, teils im Umfeld organisierter rechtsextremer Gruppen. Auch die Unterstützungsstelle RAA SUPPORT berichtet in ihrem Jahresrückblick 2024 von insgesamt 328 rassistischen, rechten und antisemitisch motivierten Gewalttaten in Sachsen, mit besonderem Schwerpunkt im ländlichen Raum.
Die Zahl antisemitischer Gewalttaten stieg ebenfalls: 2023 wurden 25 Fälle dokumentiert, 2024 bereits 40. Darunter sind körperliche Übergriffe, gezielte Sachbeschädigungen an jüdischen Einrichtungen und Bedrohungen. Laut dem sächsischen Landesbeauftragten für jüdisches Leben, Thomas Feist, ist die Bedrohung für jüdische Menschen damit so hoch wie lange nicht. Er spricht von einem gesellschaftlichen Klima, das es Jüdinnen und Juden zunehmend schwerer mache, ihren Glauben öffentlich zu leben.
Auch die Leipziger Dokumentationsstelle chronik.LE, die seit 2008 rechte, rassistische und antisemitische Vorfälle im Raum Leipzig erfasst, bestätigt eine hohe Vorfallsdichte in städtischen Zentren – insbesondere im Umfeld von Universität, Innenstadt und öffentlichem Nahverkehr.
Neben den dokumentierten Vorfällen spielt die Dunkelziffer eine zentrale Rolle. Vor allem im schulischen Umfeld werden Vorfälle häufig nicht angezeigt – aus Angst vor Stigmatisierung, Sorge um Repressalien gegen Schülerinnen und Schüler, Furcht vor möglicher Rufschädigung oder schlicht wegen mangelnder Meldewege. Auch außerhalb der Schule bleibt Vieles im Verborgenen: Viele Betroffene berichten von Unsicherheit, Scham oder fehlendem Vertrauen in Behörden, weshalb sie Vorfälle nicht melden. Fachleute schätzen, dass die tatsächliche Anzahl antisemitischer Vorkommnisse real deutlich höher liegt als in offiziellen Statistiken, deutschlandweit vielleicht um das Zwei- bis Dreifache. Laut Meldestellen tauchen viele antisemitische Straftaten gar nicht in den Polizeistatistiken auf – zum Teil, weil Codes und Symboliken unkenntlich bleiben oder Betroffene das Gefühl haben, dass Anzeigen nichts bringen würden. Diese Lücke zwischen dokumentierten Fällen und tatsächlicher Betroffenheit unterstreicht, wie wichtig zugängliche Meldestrukturen, vertrauensbildende Maßnahmen und niedrigschwellige Unterstützung sind.
Diese Entwicklungen machen deutlich, dass Antisemitismus kein Randphänomen ist, sondern in unterschiedlichen Formen – ob politisch motiviert, religiös begründet oder ideologisch aufgeladen – in der Mitte der Gesellschaft ankommt. Um dem wirksam entgegenzutreten, braucht es eine gemeinsame Anstrengung aller gesellschaftlichen Akteure: Schulen, staatliche Institutionen, zivilgesellschaftliche Initiativen, Religionsgemeinschaften und Medien stehen gemeinsam in der Verantwortung, klare Haltung zu zeigen, aufzuklären und Betroffene zu schützen. Es geht dabei nicht nur um Reaktion, sondern um nachhaltige Prävention: durch politische Bildung, demokratische Wertevermittlung, konsequente Strafverfolgung und den Ausbau von Beratungs- und Meldestrukturen. Antisemitismus darf in Sachsen – wie anderswo – keinen Platz haben.
Zivilgesellschaftliches Lagebild Sachsen 2020